Die Tapisserie
Vier große, handgewebte Wandteppiche, Tapisserien genannt, zieren den Altarraum. Sie erinnern die Gemeinde an wichtige Besonderheiten in den Kirchenjahreszeiten:
1. Ein in weiß gehaltener Teppich mit einem golddurchwirkten Kreuz, das sich in den sonnengelben Himmel erstreckt – die Oster- und Freudenzeitfarbe.
2. Dieser Teppich wird in Fastenzeiten mit einem lila-schwarzen Teppich nahezu ganz verdeckt. Der mittlere, konisch nach oben geöffnete Spalt gibt den Blick auf das Himmelskreuz der Ostertapisserie frei.
3. Für die Feste des Heiligen Geistes steht die Farbe rot. Die rote Tapisserie zeigt Torbögen, die von Feuerflammen durchzogen werden.
4. Die Tapisserie der grünen Kirchenjahresfarbe ist bestimmt von einem der bedeutendsten Gleichnisse Jesu Christi: Das Himmelreich steht und fällt in der Welt von der Austeilung der guten Botschaft Jesu Christi und wie sie aufgenommen wird: Das vierfache Ackerfeld.
Gedanken zur Tapisserie „Der vierfache Acker“ von Gudrun Müsse-Florin, der Künstlerin, die die Tapisserien in der Thomaskirche geschaffen hat.
„Der vierfache Acker“ heißt ein Gleichnis aus dem Markusevangelium, das die Künstlerin hier gestaltet hat. Darin wird von einem Sämann erzählt, von dessen Saatkörnern viele auf Wegen, Steinen oder unter Dornen landen und dort verdorren - nur ein Teil fällt auf guten Boden und trägt reiche Frucht. Einige der Motive erkennen wir unschwer auf dem Wandteppich wieder – die Künstlerin hat die Sinn-Bilder aus dem Gleichnis in Anschauung umgesetzt. Doch die Aufgabe einer eigenen Deutung nimmt sie uns damit nicht ab. Vielmehr muss der Betrachter sich mit dem Kunstwerk – ebenso wie mit dem biblischen Text – in einen Dialog einlassen. Jeder ist selbst aufgefordert, zu den Problemen, die dort angesprochen werden, Stellung zu nehmen, auf die Fragen, die an ihn gestellt werden, Antworten zu suchen.
Da sind die Dornen an der rechten Seite; spitz sind sie, gefährlich und aggressiv ragen sie ins Bild. Wie sie im Gleichnis die aufkeimende Saat ersticken, so rufen sie Erinnerungen an Ängste, Niederlagen hervor, die lähmen und mutlos machen und jedes Pflänzchen Hoffnung ersticken.
Auf der linken Seite des Teppichs als goldgelbe Punkte die ausgestreuten Saatkörner – eigentlich Sinnbilder der Hoffnung, des Lebens. Hier aber fallen sie auf Steine, auf harten, ausgetrockneten Boden und haben keine Chance, ihre Lebenskraft zu entfalten. So, wie es oftmals auch mit unseren Träumen und Hoffnungen geschieht, die in unserem durch Routine und Unrast zubetonierten Alltag keine Wurzeln schlagen können.
Und schließlich die Vögel, die nach den Körnern schnappen. Keine fröhlichen Sänger, die uns morgens mit ihrem Zwitschern wecken. Schwarz und bedrohlich sind diese, wenn sie sich mit spitzen Schnäbeln auf ihre Beute stürzen, dunkle Mächte, wie es sie auch in unserem Leben gibt.
Hat die Künstlerin in der Tapisserie also unsere Ängste, unsere vergeblichen Hoffnungen, unser Scheitern gestalten wollen? Ich denke nicht, denn es war noch gar nicht von dem mittlern Feld die Rede. Dem größten, das mit seinen warmen Gelb- und Ockertönen die dunklen Elemente überstrahlt und an die Seite drängt. Helle Lichtpunkte blitzen dazwischen auf, und schwungvoll streben alle Linien nach oben: ein Sinnbild des Aufbruchs, der Zuversicht. Zwar gebe es allenthalben – so deutete Pastor Wille in seiner Predigt zur Einweihung der Tapisserie diese Darstellung – auch in unserem Leben, Felsen, ausgetretene Wege, Dornen. Aber das Gleichnis erzähle nicht in erster Linie von unseren Defiziten, sondern davon, dass Gott den Samen seines Wortes reichlich streue und die Frucht überreichlich ausfallen werde.
Darum laden wir Sie ein: Nehmen Sie sich Zeit und betrachten Sie dieses Kunstwerk in der Thomaskirche. Lassen sie es zu sich sprechen und Ihre eigenen Gefühle und Erinnerungen dabei lebendig werden. Und lassen Sie seine Botschaft auf sich wirken von der Fülle, von dem geheimnisvollen Wirken des Reiches Gottes auch in unserem Leben.
(Text: Friedemann Meier)